Der berühmte Tritt ans Fenster
Am 19. März 1970 versammelten sich hunderte DDR-Bürger auf dem Bahnhofsvorplatz in Erfurt. Mit spontaner Begeisterung empfingen sie Bundeskanzler Willy Brandt, als dieser von Willi Stoph, dem Ministerpräsidenten der DDR, zum Tagungshotel geleitet wurde. Kaum hatte Brandt sein Zimmer aufgesucht, verlangte die Menge in Sprechchören, er möge ans Fenster treten. Nach kurzem Zögern tat er es: nicht ohne die Sorge, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. „Ich war bewegt“, erinnerte sich Brandt später, „doch ich hatte das Geschick dieser Menschen zu bedenken… So mahnte ich durch eine Bewegung meiner Hände zur Zurückhaltung. Man hat mich verstanden. Die Menge wurde stumm. Ich wandte mich schweren Herzens ab.“ Das Bild des Kanzlers am Fenster des „Erfurter Hofs“ machte Geschichte. Der kurze Augenblick bewies aller Welt – und nicht zuletzt den Machthabern in Ost-Berlin –, wie sehr das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen auch in der DDR noch lebendig war.
Zwei deutsche Staaten treffen aufeinander
Das Zusammengehörigkeitsgefühl war umso wichtiger, als das Treffen von Erfurt einer diplomatischen Sensation gleichkam. Zum ersten Mal seit der Teilung Deutschlands sprachen die Regierungschefs beider deutscher Staaten direkt miteinander.
Dieser Bruch mit der bisherigen Politik strikter Nichtanerkennung der DDR war wohlkalkulierter Teil der „Neuen Ostpolitik“, welche die sozialliberale Koalition seit 1969 eingeleitet hatte. Er sollte vor allem die Sowjetunion, die der erste Adressat dieser Politik war, von der Glaubwürdigkeit des Kurswechsels überzeugen. Dass die sachlichen Ergebnisse der Erfurter Begegnung gering waren, spielte daher keine große Rolle. Der Gegenbesuch von Willi Stoph, der am 21. Mai 1970 in Kassel stattfand, war von der SED-Führung sogar von vornherein auf ein Scheitern hin angelegt. Kompromisslos verlangte der ostdeutsche Gast, was sein westdeutscher Gastgeber nicht geben konnte: Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als selbstständiger Staat.
Die Bundesregierung stellte dem in 20 Thesen ihre eigenen Vorstellungen gegenüber. Am Ende einigte man sich auf eine „Denkpause“, mit der beide Seiten ihr Gesicht wahrten.
Nur einen Tag danach verständigten sich Staatssekretär Egon Bahr und Außenminister Andrej Gromyko in der sowjetischen Hauptstadt auf die Grundlinien des späteren Moskauer Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion. Deutlicher konnte sich nicht zeigen, dass die entscheidenden Züge der „Neuen Ostpolitik“ nicht in Erfurt oder Kassel gemacht wurden, sondern in Moskau!